Was aber hatte sich da nur angestaut in dieser prosperierenden Wohlstandsgesellschaft, die sich Deutsches Reich nannte, um sich dann so fürchterlich entladen zu müssen? Was hatte sich da nur angesammelt in den müde gewordenen Köpfen der literarischen Salons, in denen der Boheme genauso wie der Stars, der Intelligenzler, der Tonangeber, Deuter, Propheten, Revolutionäre. All diese „O Mensch“-Hymniker des Expressionismus, die Wandervögel, die Fidus-Sonnenanbeter, die Anarchisten und Aussteiger auf dem Monte Verita mit Hermann Hesse: Was war los mit ihnen?
Die Avantgarde war endlich angekommen
Sie alle sollten im August 1914 beglückt entdecken, dass sich ihre Gefühle mit denen der Kommerzienräte und Offiziere deckten. Und mit denen der Kioskbudenbesitzer und der Kohlenschlepper und der Proletarier, kurz, des Mannes auf der Straße. Die Avantgarde war im Kern der Gesellschaft gelandet, in einer Wolke aus Hass und Hochmut und nationalem Fieber. „Alle von der gleichen Wut gepackt“, heißt es bei Jörg Friedrich. Dieser merkwürdige Rausch, den man später das „Augusterlebnis“ nannte; jene Tage, in denen es keine Parteien mehr gab, sondern nur noch Deutsche. Die Tage, als die Deutschen in den Ersten Weltkrieg zogen.
Schicksalsstunde. Dieser ständige Hunger nach Schicksal! An der Oberfläche hatte sich das nicht angekündigt. Florian Illies’ wunderbare Collage „1913“ zeigt eine Alltagsgesellschaft ohne Ahnung vor der heraufziehenden Gefahr, auch ohne Ahnung noch von ihrer Bereitschaft zur ideologischen Hitzewallung. Also vorerst Theatergefechte im Feuilletonbetrieb, und das hier ist eine der bezeichnendsten Episoden:
In seiner Villa im Berliner Grunewald zieht sich der Theaterkritiker Alfred Kerr vor dem Spiegel die Fliege zurecht, um sich in den Kampf zu stürzen – in die Uraufführung von Thomas Manns „Fiorenza“, die er zu vernichten trachtet. Gleichzeitig erleben wir Thomas Mann, wie er im Hotel Adlon seinen Mantel aufbügeln lässt – um diesen Angriff und möglicherweise weitere zumindest äußerlich makellos zu überstehen.