Dies ist Teil 1 der neuen Serie zur Lage der Meinungsfreiheit. Den Auftakt lesen Sie hier.

Wissen wir noch, worüber wir sprechen, wenn wir von Meinungsfreiheit reden? Das Recht der Meinungsfreiheit nimmt in westlichen Demokratien einen sehr hohen Rang ein. Schon in der französischen Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 ist es in Art. 11 als das wertvollste Recht überhaupt beschrieben („le droit le plus précieux de l´homme“). Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat das Recht auf Meinungsfreiheit schon in den 50er Jahren als Conditio sine qua non der Demokratie umrissen:

„Für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung ist es schlechthin konstituierend, denn es ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist. Es ist in gewissem Sinn die Grundlage jeder Freiheit überhaupt, „the matrix, the indispensable condition of nearly every other form of freedom“ (Cardozo).“[1]

In den USA ist „Freedom of Speech“ sogar ein kulturelles Symbol: „Eine gut funktionierende Demokratie hat eine Kultur der freien Rede, nicht bloß einen rechtlichen Schutz der freien Rede“, meint der Jurist Cass Sunstein.[2] Das First Amendment kennt wohl den großzügigsten Schutz der Meinungsfreiheit weltweit:

„Congress shall make no law (…) abridging the freedom of speech.“

Die hohe Stellung der Meinungsfreiheit ist kein Selbstzweck. Sie hat dienende Funktion. In der Meinungsfreiheit nimmt der Mensch sein Recht auf Entfaltung der Persönlichkeit wahr, die Meinungsfreiheit ist also ein Freiheitsrecht, das klassisch gegen den absolutistischen Staat gerichtet war, und – aufgeladen durch die Aufklärung – bis heute eben auch dazu dient, überkommene Ansichten zu kritisieren, egal von welcher Autorität sie geäußert werden. Da in einer funktionierenden Demokratie jeder Mensch „ein Fürst“ ist (Paolo Flores d´Arcais), verwirklicht sich wahre Demokratie erst, wenn dieses Recht jedem einzelnen auch faktisch zusteht und zwar prinzipiell „gleich“: alles andere wäre die Fortsetzung der Beziehung „Herr zu Knecht“.

Will der Bürger in der Demokratie informierte Entscheidungen treffen, braucht er Zugang zu einem Prozess der Wahrheitsfindung, und ein Recht, das diesen Zugang ermöglicht. Ohne Recht auf Meinungsfreiheit keine Wahrheitsfindung; ohne Wahrheitsfindung keine informierte Entscheidung; ohne informierte Entscheidung keine Demokratie. Die Funktion der Wahrheitsfindung ist die heute dominierende Begründung für die Meinungsfreiheit.[3] Nur wo der Prozess der Wahrheitsfindung ungestört ablaufen kann, ist Demokratie überhaupt möglich.

Vom Truth Principle zum „Marktplatz der Ideen“

John Stuart Mill hat der Meinungsfreiheit in seinen Schriften „On Liberty“ und „On representative Government“ ein bis heute strahlendes Denkmal gesetzt. Für Mill bedeutet die Beschränkung der Redefreiheit einen Raub an der Menschheit selbst.[4] Inspiriert wurde Mill dazu von dem zur Zeit der Aufklärung verbreiteten optimistischen Blick auf die Kraft der menschlichen Vernunft. Die Idee, dass die Meinungsfreiheit primär der Wahrheitsfindung diene, übernahm er von Autor John Milton, der in seinem 1644 erschienenen Buch „Areopagitica“ gegen die Zensur der britischen Presse und für die Freiheit der Rede argumentierte: weiter