Eine der hartnäckigsten identitätsstiftenden Legenden der Linken besagt, der Antisemitismus sei ausschließlich eine Erscheinungsform rechter Ideologie. Ein überzeugter Linker kann dieser Auffassung nach per definitionem kein Antisemit sein, setze er sich doch für die Emanzipation und Gleichheit aller Menschen ein. In Wahrheit ist zumindest latente Judenfeindschaft, die sich heute vor allem in einer obsessiven Verurteilung Israels Luft macht, in der sozialistischen Ideologiegeschichte strukturell angelegt.
Diese unselige Tradition geht bereits auf die Blütezeit der Aufklärung im 18. Jahrhundert zurück. Die Juden fanden sich seitdem im Fadenkreuz der Ressentiments aus zwei entgegengesetzten Lagern wieder. Denn auch große Aufklärer wie Voltaire hegten heftige antijüdiscbe Affekte – freilich aus dem umgekehrten Motiv wie die Verteidiger der alten Ordnung. Von „Rechts“ her, vonseiten der Gegenaufklärung, ging der traditionelle christliche Antijudaismus nahtlos in die Anklage über, die Juden seien als „zersetzendes“, wurzelloses Element für die Auflösung der „natürlichen“ hierarchischen Ordnung der Gesellschaft verantwortlich. Aufklärer wie Voltaire hingegen bezichtigten das Judentum, starrsinnig an einem archaischen Gottesglauben (für ihn ein “Aberglaube”) festzuhalten und damit eine Quelle des antiaufklärerischen Obskurantismus zu sein.
Es zeichnete sich so eine Art „Arbeitsteilung“ in Sachen Judenfeindschaft ab: Der Rechten galt das Judentum forthin als Urheber und Motor der verhassten aufklärerischen Moderne, der Linken hingegen ein Hort der reaktionären, den historischen Fortschritt blockierenden Antimoderne. Dabei haben die Juden ihre staatsbürgerliche Gleichstellung zweifellos dem Wirken der Aufklärung zu verdanken. Doch vielfach wurde die Judenemanzipation mit der Erwartung verbunden, nach ihrer Befreiung aus dem Getto würden sich die Juden über kurz oder lang von ihrer jahrtausendealten religiösen und kulturellen Identität verabschieden und in der egalitären Gesellschaft beziehungsweise in der Klassenfront der Ausgebeuteten und Unterdrückten aufgehen. Als dies nicht eintraf, führte das zu verstärkten Aversionen gegen die jüdische Gemeinschaf auch im “fortschrittlichen”, linken Lager,
Selbstredend waren und sind nicht alle Linken gleichermaßen für antijüdische Stereotype anfällig. Doch gerade der Glaube, die richtige “progressive” Gesinnung immunisiere per se gegen Antisemitismus, bot und bietet diesem ein Einfallstor, sich auch im linken Spektrum (wie übrigens auch in dem der liberalen Mitte) festzusetzen.
Marx setzte das Judentum mit dem Kapital gleich
Die erste rassenantisemitische Organisation in Deutschland – die „Antisemitenliga“ – wurde 1879 von einem Radikaldemokraten der äußersten Linken gegründet, dem Publizisten Wilhelm Marr. Der französische Frühsozialist Pierre-Joseph Proudhon hatte schon Jahre zuvor sogar die physische Ausrottung der Juden propagiert. Ein derartiger eliminatorischer Antisemitismus lag Karl Marx, dessen Briefe von antijüdischen Sottisen strotzen, zwar fern. Doch in seiner Abhandlung „Zur Judenfrage“ setzte er 1843 das Judentum mit dem Kapital gleich und schlussfolgerte, mit der Aufhebung der Kapitalherrschaft werde auch das Judentum verschwinden. Oder, wie es in der Orakelsprache seiner „Dialektik“ heißt: „Die gesellschaftliche Emanzipation des Juden ist die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum.“ weiter