Professor Christian Rieck ist Wirtschaftswissenschaftler und erklärt den Zuschauern seines YouTube-Kanals jede Woche anhand eines praktischen Beispiels die Spieltheorie. Die Videos sind stets sehr interessant, Professor Rieck stets gut aufgelegt und voll im Stoff. Seine spieltheoretischen Lösungsansätze werfen oft ein überraschendes Licht auf politische oder wirtschaftliche Vorgänge. In seinem letzten Video befasste er sich mit der Frage, welche Motivation Twitter mit der Löschung der Benutzerkonten von Präsident Trump haben könnte. Kurz zusammengefasst kommt Rieck zu dem Schluss, Twitter habe durch eine Machtdemonstration die Politik wissen lassen, wer am längeren Hebel sitzt und damit auch Joe Biden und Kamala Harris ein Warnsignal gesendet, weil letztere ja bereits mit der Regulierung der Big-Tech-Konzerne gedroht habe.
Als Bild für das Machtgefälle zwischen Politik und Twitter wählt Rieck den Plot des Italo-Westerns „Spiel mir das Lied vom Tod“, besetzt die Rolle des schwer kranken Eisenbahnmoguls Morton mit „der Politik“, der den Revolverhelden „Frank“ (Twitter) dafür bezahlt, den renitenten McBain zum Verkauf seiner Farm zu drängen, aber bitte ohne Gewalt! Frank ballert natürlich alle über den Haufen und beweist so, dass er und nicht Morton die Macht in diesem Spiel hat, genau wie Twitter die Macht habe, willkürlich Löschungen vorzunehmen und somit virtuell Leute über den Haufen zu schießen. Rieck geht also davon aus, dass Twitter mit der Löschung Trumps ein Signal an die Politik senden wolle, sich nicht mit „Frank“ anzulegen.
Das könnte natürlich alles genau so sein, wie Rieck sagt. Aber ich würde nicht über dieses spieltheoretische Erklärvideo schreiben, wenn ich nicht der Ansicht wäre, dass da ein gänzlich anderes Spiel mit ganz anders verteilten Rollen gespielt wird.
Strategische Interaktion
Rieck fragt „Man muss sich fragen, wann kommen die [Tech-Konzerne] den Demokraten eigentlich zu Hilfe? Erst nachdem die Wahl gelaufen ist!“ Hier liegt nach meiner Meinung der entscheidende Fehler in seinem Szenario. Denn Hilfestellung gab es in Wirklichkeit bereits massiv und offen in der Schlussphase des Wahlkampfes, also schon vor der Wahl. Es waren Twitter und Facebook, die immer wieder Trumps Kampagnen-Accounts löschten und Presseberichte über die Verwicklungen von Biden selbst und seinem Sohn Hunter auf ihren Plattformen blockierten. In der Senatsanhörung (vor der Wahl) kam Twitter-CEO Dorsey gewaltig ins Schwimmen, als er nach den Gründen der Zensur des Artikels in der New York Post gefragt wurde. Man habe von „ehemaligen Geheimdienstmitarbeitern“ gehört, die Beweise seien russische Propaganda, meinte Dorsey, plapperte also dieselben Meldungen nach, die auch über CNN und CBS flimmerten. Dass aktuelle Geheimdienstmitarbeiter das anders sahen, konnte an der Entscheidung Twitters nichts ändern, die NYP-Artikel zu blockieren. Twitter war es auch, wo nach der Wahl jeder noch so belanglose Tweet Trumps mit dem Label „umstritten“ versehen wurde.
Twitter und Facebook sind für CNN, MSNBC, CBS & Co längst zum entscheidenden Vertriebskanal ihrer Inhalte geworden. Kaum jemand sucht deren Seiten noch direkt auf. Man lässt sich die Meldungen vielmehr von Facebook und Twitter auf den Schirm bringen und zur Suche verwendet man Google. Die Anzahl der Schaltstellen für Relevanz und Aufmerksamkeit ist klein geworden, der Meinungskorridor entsprechend eng. Bis auf wenige Ausnahmen sind die Medienhäuser eindeutig den Demokraten nahestehende Unternehmen, deren Agenda Twitter über Jahre klaglos transportierte. Hier verorte ich auch die Entscheidung Twitters, sich gewissermaßen „auf eine Seite zu schlagen“: man wählt die Seite, wo die wichtigsten Kunden sind und deren Geld ist. Da ist folglich kein „links reden aber anders handeln“, wie Rieck sagt, sondern kalkulierter Pragmatismus. Wenn etwa von „größtenteils friedlichen Protesten“ die Rede war, wenn Reporter vor brennenden Häusern standen und Plünderer die Arme voller Beute hatten, ging das stets ungerügt und ohne Faktencheck durch. Die „Kunden und das Geld“ wollten das ja genauso sehen. Man übernahm vollständig das Framing der Demokraten und hatte kein Problem damit. weiter