Der Historiker Heinrich August Winkler sieht den Westen in einer Krise. Eine engere, auf den gemeinsamen Werten aufbauende Zusammenarbeit sei unabdingbar. Die Flüchtlingspolitik der deutschen Bundeskanzlerin steht dazu im Widerspruch. Und zu einem demokratischen Grundsatz von Thomas Jefferson.

Die Geschichte des modernen Westens sei „eine Geschichte der Widersprüche und der Ungleichzeitigkeiten, eine Geschichte von Kämpfen um die Aneignung oder Verwerfung der Ideen von 1776 und 1789, der Auseinandersetzungen um verengende oder erweiternde Interpretationen der in Amerika und Frankreich verkündeten politischen Konsequenzen der Aufklärung“, befindet der Historiker Heinrich August Winkler: „Zu keiner Zeit gibt es einen völligen Gleichklang von Projekt und Praxis.“ 

Projekt und Praxis klaffte in seiner Sicht auch im Jahre 2015 auseinander: Die Flüchtlingspolitik der deutschen Bundeskanzlerin sieht er in diesem Zusammenhang im diametralen Widerspruch zu einem Leitsatz der Gründungsakte des Westens: dem „consent of the governed“, der stillen Übereinkunft der Regierten mit den Regierenden, wie ihn Thomas Jefferson in der  Präambel der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 für grundlegend für eine funktionierende Demokratie erklärte. Winkler wörtlich:  „Zu den Grunderkenntnissen der Pioniere des normativen Projekts des Westens gehört die Einsicht in die Unabdingbarkeit der Akzeptanz von Macht – des „consent of the governed“, von dem die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten vom 4. Juli 1776 spricht. Auf die Zustimmung der Regierten sind Gesetzgeber und Regierungen auch angewiesen, wenn es um die praktische Verwirklichung normativer Selbstverpflichtungen, etwa im Bereich von Asyl und Migration, und damit um die Integrationsfähigkeit von Gesellschaften geht. Die Integrationsfähigkeit und ihre Grenzen im Blick zu behalten ist ein demokratischer Imperativ – ein Gebot, das sich aus der Notwendigkeit des „consent of the governed“ ergibt.“

Cicero dokumentiert die Rede, die Winkler am 8. Mai anlässlich eines Empfangs zu seinem 80. Geburtstag unter dem Titel „Ein normatives Projekt in der Krise
Geschichte und Gegenwart des Westens“ im  Senatssaal der Berliner Senatssaal der Berliner Humboldt-Universität gehalten hat.   

Der „Westen“ ist seit langem ein umstrittener Begriff. Mitunter wird er sogar konsequent in Anführungszeichen gesetzt und zum bloßen Konstrukt erklärt: zum Schlagwort geworden um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, um die Gemeinsamkeiten der „zivilisierten“, christlichen, weißen Nationen Europas und Nordamerikas gegenüber den nichtweißen, angeblich nicht oder weniger zivilisierten Teilen der Menschheit hervorzuheben, im Ersten Weltkrieg benutzt, um den Gegensatz zwischen den „westlichen Demokratien“ – Großbritannien, Frankreich und den Vereinigten Staaten von Amerika – auf der einen und dem vergleichsweise obrigkeitsstaatlich verfassten deutschen Kaiserreich auf der anderen Seite zu betonen, im Kalten Krieg nach dem Zweiten Weltkrieg zum Synonym der „freien Welt“ aufgestiegen, die entschlossen war, ihre demokratische Lebensform gegenüber dem kommunistisch regierten Osten zu verteidigen.

Mein Ausgangspunkt ist ein anderer. Ich frage nach den gemeinsamen Traditionen, Normen und Institutionen des historischen Okzidents, aus dem im Zuge der beiden atlantischen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts, der Amerikanischen Revolution von 1775/1776 und der Französischen Revolution von 1789, der moderne transatlantische Westen hervorgegangen ist. Es bedurfte eines komplexen sozialen, kulturellen, intellektuellen und religiösen, das heißt jüdischen und christlichen Erbes, obenan einer Jahrhunderte währenden Ausdifferenzierung der Gewalten, beginnend mit der ansatzweisen Trennung von geistlicher und weltlicher sowie fürstlicher und ständischer Gewalt im hohen Mittelalter, um jenes normative Projekt hervorzubringen, das in der Virginia Declaration of Rights vom 12. Juni 1776, der ersten Menschenrechtserklärung der Geschichte, seinen frühesten und gleichzeitig klassischen Ausdruck fand. Unveräußerliche Menschenrechte, Gewaltenteilung, „checks and balances“,  „rule of law“, Volkssouveränität und „representative government“: So etwa lässt sich schlagwortartig die „vollkommene Umkehr des Prinzips“ umreißen, die Leopold von Ranke 1854 in seiner Vorlesung „Über die Epochen der Neueren Geschichte“ der Amerikanischen Revolution, der Revolution einer Bürgergesellschaft, bescheinigt hat.

Zwischen Logik der Werte und Logik der Macht

Die Geschichte des modernen Westens ist eine Geschichte der Widersprüche und der Ungleichzeitigkeiten. Sie ist seit den beiden atlantischen Revolutionen zu einem guten Teil eine Geschichte von Kämpfen um die Aneignung oder Verwerfung der Ideen von 1776 und 1789, der Auseinandersetzungen um verengende oder erweiternde Interpretationen der in Amerika und Frankreich verkündeten politischen Konsequenzen der Aufklärung. Zu keiner Zeit gibt es einen völligen Gleichklang von Projekt und Praxis. Die Geschichte des modernen Westens ist vielmehr von Anfang an immer auch eine Geschichte brutaler Verstöße gegen die Ende des 18. Jahrhunderts proklamierten Prinzipien, eine Abfolge von Konflikten zwischen Normen und Interessen, ein Ausdruck des unaufhebbaren Spannungsverhältnisses zwischen der Logik der Werte und der Logik der Macht. Und sie ist eine Geschichte von Selbstkritik und Selbstkorrekturen, also von Lernprozessen. Es ist diese in den Ideen von 1776 und 1789 angelegte Dynamik, die aus dem normativen Projekt einen normativen Prozess gemacht hat.

Auf die Menschenrechte konnten sich in der Folgezeit auch jene berufen, denen sie im Widerspruch zum universellen Anspruch ihres Wortlauts vorenthalten wurden: die nach Amerika zwangsimportierten afrikanischen Sklaven, die indianische Urbevölkerung Amerikas und die europäischer Kolonialherrschaft unterworfenen Völker. Was die Bürgerrechte im engeren Sinn angeht, boten die Prinzipien von 1776 und 1789 den Frauen die normative Grundlage, um die Gleichberechtigung der Geschlechter, obenan das Frauenwahlrecht, einzuklagen. Die besitzlosen Massen konnten sich unter Berufung auf dieselben Grundsätze gegen die umfassende Privilegierung der Besitzenden auflehnen. Nach der etwas schematischen, in der Akzentsetzung aber zutreffenden Periodisierung des britischen Soziologen Thomas H. Marshall, standen im 18. Jahrhundert die allgemeinen bürgerlichen Freiheitsrechte im Vordergrund, während im 19. Jahrhundert Forderungen nach gleichen politischen Teilhaberechten und im 20. Jahrhundert das Postulat sozialer Gleichheit im Sinne von Chancengleichheit das Bild bestimmten.

Das 20. Jahrhundert war zugleich das Jahrhundert einer zweifachen radikalen Infragestellung des normativen Projekts des Westens: einer linken und einer rechten. Die Urheber der russischen Oktoberrevolution von 1917, die Bolschewiki, beriefen sich, wie schon Karl Marx, auf das Erbe des äußersten linken Flügels der Französischen Revolution, der „Verschwörung der Gleichen“ um François Noël („Gracchus“) Babeuf, die als erste die vollständige Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln und die Errichtung einer kommunistischen Gesellschaft forderte. Der linke Gegenentwurf zum „bürgerlichen“ Projekt des Westens setzte eines der Postulate von 1789, das der Gleichheit, absolut und eliminierte ein anderes: das der Freiheit.

In den Gegenentwürfen der äußersten Rechten, wie sie die italienischen Faschisten und die deutschen Nationalsozialisten vertraten, war für eine Teilrezeption des politischen Erbes der Aufklärung kein Platz. Die rechte Negation des normativen Projekts des Westens war, so gesehen, die radikalere der beiden totalitären Kampfansagen an die Ideen von 1776 und 1789, aber auch die kurzlebigere. Ihr Untergang war das Gemeinschaftswerk der westlichen Demokratien und ihres linken Kontrahenten und zeitweiligen Alliierten, der Sowjetunion.

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